Matthäus Schmied begibt sich auf die Suche nach dem Grund, warum die politische Kultur dort angelangt ist, wo sie sich befindet. Und weshalb Hans Kelsens „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ zur Standardlektüre der politischen Kaderschmieden gehören sollte.

Matthäus Schmied / Österreichische Verfassung 1920

In einem eher kurzen Werk brachte der Vater unserer Verfassung, Hans Kelsen, 1920 (bzw. in einer aktualisierten Version 1929) seine grundlegenden Gedanken zum Wesen und Wert der Demokratie zu Papier. In diesem Büchlein steckt viel, das einer genaueren Betrachtung Wert ist. Neben der Begründung des Mehrheitsprinzips (dieses bietet die größte Freiheit, da mehr Menschen ihren Willen durchsetzen als darauf verzichten müssen), verbunden mit einem an unveräußerlichen Grundrechten orientierten Minderheitenschutz (nur so ist gewährleistet, dass die Mehrheit nicht das Gesamtsystem aushebelt), setzt Demokratie eine Weltanschauung des Relativismus voraus. An dieser Stelle möchte ich mich auf den letzten soeben genannten Punkt konzentrieren: Der relativistischen Geisteshaltung, die mit Demokratie verbunden sein sollte.

Es bedarf der Einsicht, dass es möglich ist, sich zu irren. Der Einsicht, dass es möglich ist, dass auch die andere Seite, der politische Mitbewerber – mag er auch in der Minderheit sein – richtig liegen könnte. Damit steht Demokratie als Gegensatz zu jedem absolutistischen System und zu jeder absolutistischen Denkweise und Weltanschauung. Darum ist jedes politische System, das sich Demokratie nennen darf, auch so beschaffen, dass es auch der Minderheit grundsätzlich möglich sein muss, die Mehrheit zu erringen.

Mit der Einsicht, selbst irren zu können, wird die Mehrheit, die ihr verliehene Macht nur soweit gegen die Minderheit ausüben, wie sie es bei umgekehrten Mehrheitsverhältnissen in Ordnung fände. Damit schließt sich der Kreis zum kategorischen Imperativ von Immanuel Kant, der auch in der Politik gelten sollte: „Handle stets nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Oder anders ausgedrückt: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu; gerade im Umgang und Diskurs mit dem politischen Mitbewerber.

Dass Systeme, in denen die Mehrheitsverhältnisse nicht wechseln, anfällig dafür sind, diese Prinzipien zu vergessen, liegt nahe. Es ist nur allzu natürlich, dass mit der ständigen Machtausübung über Jahrzehnte, das Bewusstsein, irren zu können, schwindet – ein Prozess, der nicht auf Politik beschränkt ist.

Es ist schade, dass dieses Werk Kelsens in seiner Tiefe offenbar nicht zur Standardlektüre der politischen Kaderschmieden gehört. Folgt man medialen Berichten, spielt dort Machiavelli und dessen zentrale Botschaft der Machterlangung und des Machterhalts eine größere Bedeutung. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die politische Kultur dort angelangt ist, wo sie sich befindet.

 

Matthäus Schmied

GR Dr. Matthäus Schmied

Matthäus ist als Jurist natürlich unser Mittelpunkt für alle rechtlichen Fragen. Er ist Gemeinderat und Mitglied des Ausschusses für Sport und Kultur. Nebenbei ist er als Vereinsobmann eifrig bemüht in unsere bunte und quirlige Gruppe ein wenig mehr Ordnung und Disziplin, sowie Diskussionen zu einem Ende zu bringen.